Was ist das »Ich«?
Das Sanskrit-Wort »Atman« wird gewöhnlich mit Seele, Selbst oder Ich übersetzt. Atman soll der unveränderliche Kern, die unsterbliche Seele, ein dauerndes, absolutes Selbst oder Ich darstellen.
Einige Religionen lehren, dass jeder Mensch eine solche Einzelseele hat, die von Gott oder einem anderen Schöpfer geschaffen ist. Und ebenfalls abhängig vom Schöpfer ist, ob diese Seele nach dem Tod entweder ewig im Himmel oder der Hölle lebt.
In anderen Religionen muss die Seele erst durch mehrere Leben wandern und gereinigt werden, bevor sie sich mit Gott, der Weltseele oder Atman wieder vereinigen kann.
Diese Seele, dieses Selbst oder Atman ist der Denker der Gedanken, der Fühler der Gefühle und der Empfänger von Lohn und Strafe für gute und böse Taten.
Der Buddhismus jedoch leugnet die Existenz einer Seele, Selbst, Ich oder Atman. Die Lehre Buddhas ist damit einzigartig in der Geschichte des menschlichen Denkens.
Im Buddhismus ist der Begriff eines Selbst nur eine Einbildung, ein falscher Glaube und entspricht keinesfalls der Wirklichkeit.
Zudem führt dieser falsche Glaube zu selbstsüchtigen Begehren, Ichsucht, Hass, Verlangen, Eitelkeit, Anhängen, Stolz und anderen Befleckungen.
Ob persönliche Streitereien oder Kriege zwischen Nationen: Alles Leiden in der Welt entsteht durch diesen falschen Glauben, der Illusion eines Selbst.
Schutz und Erhaltung des Selbst
Selbst-Schutz und Selbst-Erhaltung: Diese zwei Vorstellungen sind fest verankert im Denken des Menschen.
Und genau darum wurde Gott geschaffen und der Glaube an die unsterbliche Seele, an ein Selbst.
Gott schützt das Selbst. Und die unsterbliche Seele oder Atman dient zur Erhaltung des Selbst, verspricht ewiges Leben.
Der Mensch braucht diese tröstenden Vorstellungen; er hängt hartnäckig daran, weil er unwissend, schwach, ängstlich und gierig ist.
Gegen das Verlangen
Buddhas Lehre richtet sich gegen das selbstsüchtige Verlangen des Menschen. Der Buddhismus möchte den Menschen erleuchten; die geistigen Fesseln lösen und vernichten.
Begriffe wie Gott, Seele oder Selbst sind nach buddhistischer Lehre nur falsche Vorstellungen und Illusionen.
Jedoch sind dem Menschen diese Vorstellungen so wichtig, und sein Glaube daran ist so fest, dass er keine Lehre hören und verstehen will, die sich dagegen richtet.
Wenn man aber die fünf Daseins-Gruppen, und die Lehre von der Bedingten Entstehung, kritisch untersucht und analysiert, ist das logische Ergebnis: die Lehre vom Nicht-Ich oder Anatta.
Zwei Methoden: analytisch und synthetisch
Wie in der Ersten Edlen Wahrheit beschrieben, besteht ein Lebewesen aus fünf Daseins-Gruppen.
Untersucht und analysiert man diese fünf Gruppen, so bleibt nichts übrig, was man als Seele, Selbst, Ich oder Atman bezeichnen könnte. Dies ist die analytische Methode.
Die Lehre von der Bedingten Entstehung verfährt synthetisch. Danach ist nichts in der Welt absolut. Alles ist bedingt und miteinander verbunden.
Die Bedingte Entstehung
Den Kern der Lehre von der »Bedingten Entstehung« wird im Pali-Kanon anschaulich in ein paar Zeilen gefasst:
Wenn dies ist, ist jenes;
wenn dies entsteht, entsteht jenes.
Wenn dies nicht ist, ist jenes nicht;
wenn dies aufhört, hört jenes auf.
Somit ist alles relativ, bedingt und voneinander abhängig. Die Lehre der Bedingten Entstehung, erklärt ausführlich das Dasein, die Fortdauer und das Aufhören des Lebens:
1. Durch Unwissenheit und Verblendung sind die Karma-Formationen oder Willens-Tätigkeiten bedingt.
2. Durch die Willens-Tätigkeiten ist das Bewusstsein bedingt.
3. Durch Bewusstsein sind geistige und körperliche Vorgänge bedingt.
4. Durch körperliche und geistige Vorgänge sind die sechs Fähigkeiten bedingt: die fünf Sinnesorgane und der Geist.
5. Durch die sechs Fähigkeiten ist der Kontakt zu den Objekten der Sinnesorgane und zu den Geistesobjekten bedingt.
6. Durch Kontakt der Sinnesorgane und des Geistes mit den zugehörigen Objekten ist das Gefühl bedingt.
7. Durch das Gefühl ist der »Durst«, das Begehren bedingt.
8. Durch den »Durst« ist das Anhaften bedingt.
9. Durch das Anhaften ist der Werde-Prozess bedingt.
10. Durch den Werde-Prozess ist die Geburt bedingt.
11. Durch die Geburt sind (12.) Krankheit, Schmerz, Alter, Sterben usw. bedingt.
Die Lehre von der Bedingten Entstehung und die Analyse der fünf Daseins-Gruppen eines Lebewesens, machen deutlich klar, dass die Vorstellung eines unsterblichen Selbst, Seele, Ich oder Atman nichts weiter ist als ein falscher Glaube, eine Illusion des Geistes.
Dies ist Buddhas Lehre vom Nicht-Ich, von Anatta. Nirvana zu erfahren heißt, diese Wahrheit ganz klar zu erkennen – was nicht leicht ist und nur wenige Menschen erfahren diese absolute Wahrheit.
Lies bitte hier weiter: »Meditation – Entfaltung des Geistes«